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31. Januar 2009 6 31 /01 /Januar /2009 18:05

Der „Virtuelle Realismus“ als post-postmoderne Überwindung 
der Realistischen Kunst der Moderne ( Teil 1 aus 4))

Der Bürger wünscht die Kunst üppig und das Leben asketisch; umgekehrt wäre es besser.

Theodor W. Adorno

ein Palimpsest mit aktuellen Bildbeispielen 

Reinhold Sturm 

 

Bilder dazu auf unserer homepage 

 

 

 

Pongratz, Wallner, Zens

 

Einleitung: Kunst versus Wissenschaft im 20. Jahrhundert

Im 20. Jahrhundert entwickeln sich zusätzlich zur materiellen Produktionssphäre die beiden Sphären der Geistigen Produktion- Wissenschaft und Kunst - sehr dynamisch zu relativ eigenständigen Systemen innerhalb der kapitalistischen Ökonomie, das bedeutet, dass die Anzahl der damit Beschäftigten und deren soziale Stellung stark wuchs. Die Wissenschaft, speziell die Naturwissenschaft entfaltet das allgemeine gesellschaftliche Wissen über das Reale in einer globalisierten (allgemein-)gültigen  Sprache – die Entwicklung der Physik und Mathematik begünstigen die materialistisch deterministisch/kausale Realitätsauffassung und den philosophischen Formalismus im Sinne der Reflexion der mathematischen Methodik (Logische Positivismus). Gleichzeitig werden fundamentale Paradigmen der Naturwissenschaft, welche auch in der alltäglichen Weltanschauung besonders der Intellektuellen eine Rolle spielen erschüttert:

Raum – Zeitbeziehung, Struktur/dynamik der physikalischen Materie, Determinismus – Stochastik/Unschärferelation, die Struktur des individuellen Bewusstseins (Freudianismus und die Illusion des  „Genies“ des Unbewussten), der Zerfall bisheriger Sozialer Normen im Sinne der Dichotomie des Subjektivismus versus Kollektivismus; der Konstruktivismus als Prinzip  menschlicher Praxis/Erkenntnis versus dem Fatalismus der sozialen Gesetze (Sachzwänge), revolutionäre Illusionen und die Not der Arbeiterklasse…

Diese Veränderungen beginnend am Ende des 19 Jahrhunderts werden vermittelt über diverse ideologischen Umbrüche (Feudale, bürgerliche, sozialistische, anarchistische, religiöse, spiritualistische (Vitalismus, Mesmerismus…)) auch  in der Praxis der Kunst wirksam: der „Gegenstand“, die Rolle des Produzenten, der Auftraggeber, der Interessen der Rezipienten der Künste, das gesamte Kunstparadigma wird fraglich. Die Künste befreien sich oder werden in die Freiheit gedrängt ihre bisherige Abhängigkeit aufzugeben: von Herrschaft, Reichtum, Dekoration, Traditionalismus, Akademismus, Einbettung in Pseudowissenschaftlichkeit (Allgemeine Fragen der Wahrnehmung, Psychologie, Soziologie…) und der Ausschließlichkeit der europäischen Tradition.

 

Nur selten erkennt man in Klarheit, daß der Gegenstand der Kunst (Künste) in der konstruktiven  Entfaltung der Sphäre der sinnlichen Besonderheit (Einzel/Allgemein, das subjektiv-humane) des Menschen als gesellschaftliches Individuum liegt, welches durch die Dialektik der Wissenschafts-/Produktivkraftentwicklung und der regional-kulturellen  Gebundenheit der Subjekte auf die europäische Kunsttradition noch selbst in der Aufnahme  der außereuropäischen Kunsteinflüsse determiniert ist.

 

Die ideologischen Verwirrungen dieser Umbruchsituation  führen zu diversen Verabsolutierungen in der Destruktion des Tradierten und in experimentellen und scharlatanischen Innovationen. Zusätzlich zerstören Kolonialismus, Weltkriege und Revolutionen die scheinbare Sicherheit ästhetisch / künstlerischer Auffassungen am Beginn des 20. Jahrhunderts. Diese Epoche der chaotischen Des-und Neuorientierung sollte über die Klassenkämpfe, Faschismen, Weltkriege und kalten Kriege bis in letzte Viertel des 20. Jahrhunderts dauern und erst mit der Globalisierung und Stabilisierung des Globalen Kapitalismus und dessen postmoderner Normen zur Weltkunst sich entwickeln.

 

 

 

Wang Wen Sheng (VRC) lost water, 2007, 90 x 110 oil carnavas

 

 

Welche philosophischen Fragen stellen sich nun die postmodernen chinesischen Künstler? Genügt es ihnen  die Nachahmung der westlichen Kunst zum Maßstab zu nehmen bzw. deren Distanzierung oder Übersteigerung?

Ist die historische Referenz schon ausreichend, um an die europäische Kunsttradition anzuknüpfen, bzw. ins Welt-Kunstsystem einzudringen ?

Gibt es so etwas wie eine Wahrheitssuche der Form, den Anspruch auf das Wesen des Werkes, welches sich nicht unmittelbar erschließt oder ist jedes Werk lediglich eine dekorative Erscheinung, Dekor des wachsenden Reichtums, ohne tiefere Bedeutung, da nur existierender Schein? Ist der Schein das Wahre der postmodernen Kunst, gibt es kein Wesen dahinter?  (aus: „Die postmoderne chinesische Malerei der Gegenwart“ )

 

 

 

 

 

 

Exkurs in die konstruktivistische systemtheoretische Reflexion der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts


Der Formalismus als selbstbehauptete Moderne

Mit der Modernen - N. Luhmann - verändern sich auch die gesellschaftlichen Imperative für Individualität. Nicht mehr: „was hat man zu sein?“ sondern: „wie hat man zu sein?“ ist die Frage. Wenn das Individuum durch Technik derart marginalisiert wird, gewinnt es die Distanz, die es möglich macht, das eigene Beobachten zu beobachten. Es weiß nicht mehr nur sich selbst. Es bezeichnet nicht mehr nur sich selbst mit Namen, Körper und sozialer Placierung. In all dem wird es verunsichert. Und statt dessen gewinnt es die Möglichkeit einer Beobachtung zweiter Ordnung.

INDIVIDUUM IM MODERNENSINN IST, WER SEIN EIGENES BEOBACHTEN BEOBACHTEN KANN.

Und wer nicht von selber drauf kommt oder von seinem Therapeuten darauf gebracht wird, hat die Möglichkeit, Romane zu lesen und auf sich selbst zu projizieren - als „uno, nessuno e centomila“ (Pirandello)

Denn: „Ich ist ein Anderer“, wie Lacan den Dichter Arthur Rimbaud (2 H. 19 Jh) zitiert – der Andere, dessen Bild dem Subjekt als Ideal-Ich (moi) gilt, und dem es sein Ich (je) anzunähern versucht, liegt außerhalb des eigenen Körpers.


Man sollte diese Diagnose nicht zu rasch als pessimistisch abtun. Man kann sie jedenfalls auch als Hinweis
auf die Möglichkeit des Ausprobierens immer neuer Kombinationen, ja immer neuer Unterscheidungen sehen, für die funktionierende Simplifikationen (die Kunstwerke) eine unabdingbare Voraussetzung bilden.

 

Der Kunstbegriff der Moderne ist in seiner pessimistischen Sicht

schließlich so weit ausgedehnt und ausgereizt, dass negative Werte wie Banalität, Kitsch, Abfall, Pornografie als Differenzkriterien unbrauchbar geworden oder als Readymades künstlerisch vereinnahmt sind. Klassische Gegensatzpaare wie schön und hässlich, gut und böse, die noch im Projekt der „nicht mehr schönen Künste“  wirksam waren, greifen nicht mehr recht. Geblieben vom Projekt der Moderne ist eine ästhetische Entgrenzung - die mangels Barrieren und Tabus (?), die noch zu überwinden wären – zum Leerlauf, zur Tautologie der Wirklichkeit, zu werden droht.

Dieser Mangel entspringt der Koketterie des Formalismus mit dem Zwang zur technischen Modernität als marktmäßiges Differenzierungspotential und einer metaphysischen „Freiheitsauffassung“. Auch das Missverständnis dass Kunst allgemeingültige Wahrheiten quasi als Konkurrenz zur Wissenschaft bieten könne förderte formalistische Ausprägungen im Sinne einer Welt-Kunstsprache ohne Realitätsbezug als zur Kunst selbst. Die Verherrlichung der Technik, der Verdinglichung, der Enthumanisierung vertreibt den Menschen und seine sinnliche Differenzierung aus der Kunst und ersetzt sie durch den feinen Differenzierungsgeschmack der Elite und deren Experten.

Was wir vom Projekt der Moderne ins 21. Jahrhundert übernehmen, wäre eine von ihrer permanenten  Selbstdestruktion (Dekonstruktion) bedrohte Moderne. Die Postmoderne. Die Gegenwartskunst hat auf weiten Strecken vergessen, dass sich Kunst, grenzüberschreitende, emanzipatorische Kunst, im Gegensatz und Widerspruch zur Herrschaft, nicht in der totalen Kommunikation mit ihr, verwirklicht. Heute ist sie weitestgehend der raffinierte Schein der ideologischen Indoktrination der Eliten und Massen unter dem Mantel der „Freiheit“ und des Genusses. Die Kunst wurde zum  wa(h)ren Genußautomaten der herrschenden Klasse(n) und zum neuen Heroin fürs Volk.

Gibt es noch die zu Marxens Zeiten und zu Brechts Epoche vermutete  maulwurfarstige Kunst der sinnlich wahrnehmbaren Kritik, des  impliziten Widerspruchs im herrschenden Ideologischen, welche über die Kämpfe der Klassen und Schichten, Völker und Institutionen in der performativen Sprache der Kunst diese Kritik artikuliert  und permanent im Flottieren der Bedeutungen, besser gesagt: in der Umwertung der Werte sichtbar wird ?

Ohne Illusion findet auch diese Dimension, abhängig von Spekulationsinteressen und Markt“zwängen“ immer wieder Zugang zum ökonomischen System der Kunst – wird absorbiert.

Das Kunst-System der Gegenwart besteht als spezifische Produktionssphäre der „Geistigen Produktion“ aus einem mittlerweile während des 20/21-ten Jahrhundert ausgeprägten äußerst profitablen sozio-ökonomischen Regulationssystem, welches trotz seiner immanenten Krisenhaftigkeit seine  inhärente Basis institutionell (Museen, Auktionshäuser, Messen, Märkte, Sammler, Fonds..) stabilisiert und seine Effekte globalisiert hat.

Das Regulationssystem der Kunst ist neben den Patentmonopolen und Eigentümern der Urheberrechte  einer der Vorreiter der Globalisierung des euroamerikanischen (geistigen) Kapitals, die Kunst hat die historische Rolle der katholischen Missionierung erfolgreich übernommen und effektiv ausgebaut.- ein profitabler Softfaktor ökonomischer Infrastruktur.

 

Das Ende der Kunst ?

von Hegel bereits Anfang des 19. Jahrhunderts angekündigt, steht für eine Krise der Repräsentation des Ideellen, die auch zu Beginn diesen Jahrhunderts von Künstlern wie Duchamp und Malewitsch und später von Lyotard u.a. als Krise der Repräsentation überhaupt dargestellt wurde . Aus einer berechtigten Kritik an dem überkommenen Erkenntnisparadigma der passiven Widerspiegelung wurde  in ihrer Verabsolutierung eine der verhängnisvollsten Antworten auf die erkenntnistheoretischen  Fragen der Kunst und der Wissenschaft gegeben. Sie war und ist der agnostischer Abgesang und gibt Raum für Obskurantismus und Idealismus aller Spielarten. Sie entspringt der Gegnerschaft gegenüber einem Popanz einer passiven Abbildtheorie, die schon immer dogmatisch veraltet war, wenn auch im Stalinismus und in der Vulgärphilosophie bis heute weit verbreitet. Ein „Abbild“ - jede theoretische Leistung - ist das Ergebnis einer konstruktiven psychischen (gesellschaftlich/individuellen) Arbeit, aber , entgegen solipsistischer Behauptungen des radikalen Konstruktivismus, an die einzigartige Realität und damit menschliche Praxis gebunden.

Die Behauptung des Endes der Kunst impliziert die zählebigen Redensarten wie die „Vertreibung des Menschen aus der Kunst“ oder den „Verlust der Mitte“, womit der Kulturkonservatismus von Ortega y Gasset bis Hans Sedlmayr das Projekt der Moderne zu torpedieren versuchten. Wobei man ja Sedlmayr zugestehen muss, dass er wusste wovon er sprach, da er sich um die  Disfunktionalität der Kunst zur Aufrechterhaltung der Herrschaft des Kapitalismus sorgte. Ortega y Gasset konnte der Kunstentwicklung in den Zwanzigerjahren durchaus dies als  Positives abgewinnen:  die Unverständlichkeit dieser Kunst für die Massen – als Entwicklung zu einer nur mehr komplex zu vermittelnden Elitekunst  für die Tempel (Museen) der Elite. Er hat damit auch einen Aspekt der Realfunktion des Politisch-konservativen in der Moderne erkannt – das Populäre (nicht das Triviale) ist zu eliminieren.

 

 

Jo Kühn O.T 2007, Papierschnitt 130x29 cm

 

 

Das Zwanzigste Jahrhundert und seine Kunst

Das Projekt der Progessiven-Moderne sah sich in seiner explizit antikapitalistischen, humanistischen Strömung als Bremsblock im Prozess der „Zerstörung der Vernunft“  und deren  faschistischen Tendenzen ( Georg Lukacs ). Diese Moderne beginnt mit der revolutionären Artikulation des Bürgertums und seiner kleinbürgerlichen Rebellen während der Französischen Revolution, Unterbrechungen durch die folgende Reaktion, Wiederaufnahme wenn auch zögerlich im Impressionismus und besonders während der Pariser Commune.  Ausgehend von der gebrochenen Romantik eines Delacroix oder Gericault und dem kritischen Realismus von Courbet, Daumier, Hogan, teilweise sogar Millet, über van Gogh bis zu Bacon, Lucian Freud oder Hrdlicka entwickeltt sich das rebellisch, „revolutionäre“ Kunstverständnis, das mit dem Humanismus und den unterdrückten Schichten diese Welt verbunden ist, bis heute.

 

 

 

Gerda Fassel, La Zia, 1969, 27x21,5x23,5, bronze 0/7

 

Das Projekt der Moderne bedeutet nicht nur den Anschluss an die extensive Romantik von Novalis, Schlegel, Kleist („Über das Marionettentheater“), Baudelaire, Lautreamont, sondern auch die Befreiung aus der Vormundschaft und Kontrolle durch die feudale Herrschaft und die deutschen Identitätsphilosophie des Idealismus, der Ästhetik Hegels und seiner Schüler.

Die Entwicklung der Moderne ist auch das ursprünglich progressive  Anknüpfen an die Befreiung des sogenannten ästhetisch Bösen, Verrufenen, Hässlichen, z.B.: bei den de Sade huldigenden Surrealisten, wie  Artaud und Bataille. Aber die Erben der Romantik in unserem Jahrhundert haben zwar die giftigen Früchte der Verdrängung des Fleisches, des Zufalls, des Unbewussten, alles Unästhetischen sichtbar gemacht, diese wurden aber im Sinne der hemmungslosen postfaschistischen ökonomischen Interessen zur perversen/verdinglichten Leidenschaft massenhaft (ca 800.000 SM-begeisterte in D, 2008, Spaßbrutalität, Kriegsbegeisterung. etc) entwickelt.

Das widersprüchliche Projekt der Moderne vereinigte die Romantik und die Utopie des Humanen, die Vernunft und Kritik der Zustände. Wir müssen diese unauflöslichen Widersprüche, als die Antinomien unserer Moderne und als die reale dichotomische Sicht der Kunstgeschichte des 20.Jahrhunderts akzeptieren. Das sozial-staatliche Umfeld vertritt in seiner humanistisch orientierten Ausprägung vermittelt durch seine Klassenkämpfe, hegemonialen ideologischen Institutionen und habituellen Ausprägungen  ein Rationalisierungs- und Aufklärungskonzept, das den erweiterten instrumentellen Freiraum der Kunst in einem „vernünftigen“ Ausmaß gleichzeitig zu erweitern und zu beschneiden sucht. Die humanistisch-rationalistische Strömung verurteilt die Romantik darin, dass sie die Deformation des Schönen, Guten und Wahren in der Emanzipation des Hässlichen, Bösen und der ästhetischen Lüge zu weit getrieben hat und der Tradition der Schwarzen Romantik frönt, dies gaben schon Lukacs, Bloch und auch Habermas zu bedenken.

Die Kunst braucht, damit ihre Wahrheit formulierbar wird, die Philosophie; aber die Philosophie braucht auch die Kunst (Adorno). Die heutige Philosophie ist im Anschluß an Gramsci eine Philosophie der Praxis, eine Reflexion der Geschichte unserer Praxis und der daraus möglichen Handlungsentwürfe.

Adorno war noch utopisch der Auffassung, dass  ohne Kunstwerke  der Philosophie der Weg zur Wahrheit längst versperrt sei. Die rationale Struktur der Philosophie wie auch er sie verstand, ihr identitätslogisches (idealistisches) Denken ist nicht imstande (Castoriadis), die Komplexität der Wirklichkeit zu erfassen. Ebensowenig vermag die Kunst den allgemeinen Verblendungszusammenhang, den die Kulturindustrie der kapitalistischen Gesellschaften über das Bewusstsein der Menschen legt, zu durchbrechen. (vgl. aber dagegen Jan Rehmann, „Einführung in die Ideologietheorie“, 2007 Argumentverlag)

 

 

 

Jürgen Czaschka , 2000,  Poseidon, Radierung

 

Die Hoffnung Adornos, dass mittels der Darstellung des Erhabenen als Ausdruck des Widerstandes gegen die Totalität unserer Gesellschaft die Kunst einen privilegierten Zugang zur Wahrheit hätte, konnte er nur in der Form der Verweigerung der ideologischen Formen, mit denen der Markt das Bewusstsein überschüttet, zu begründen versuchen. Deshalb muss Kunst nach Adornos Auffassung in der Organisation ihres Materials immer radikaler werden, da die ästhetischen Errungenschaften immer schneller durch die massenhafte Reproduktion und Vermarktung entwertet werden. Doch diese  negativen Dialektik schützt nicht vor der Affirmation an die Markterfordernisse, nichteinmal  zu Adornos Zeiten.  Das war auch ein Motiv für viele linksintellektuelle Künstler, dass ihre Kunst der Moderne immer hermetischer, in sich geschlossener, vordergründig unverständlicher, immer radikaler wurde. Wie Adorno es formulierte: „Die adäquate Haltung von Kunst wäre die mit geschlossenen Augen und zusammengebissenen Zähnen!“ In dieser Haltung glaubte Adorno würde Kunst zum Statthalter des Humanen in einer inhumanen Welt. Sie könne dies aber nur, wenn sie, wie Adorno in der Philosophie der neuen Musik geschrieben hatte,, diese Unmenschlichkeit der Welt um des Menschlichen willen überbietet“. Auch eine der Quellen der eliteorientierten Kunstentwicklung.

 

Die Schocks der Sozialen Kämpfe, der Weltkriege, des Faschismus und des Kalten Krieges 

Das SYSTEMUMFELD der KUNST des zwanzigsten Jahrhunderts

Bürgerkriege oder bürgerkriegsähnliche Zustände seit der Pariser Commune in vielen europäischen Ländern zur Durchsetzung minimalster sozialer und demokratischer Standards; Pomp und Reichtum der Feudalen Herrscherhäuser. Hemmungslose kapitalistische Gier und Kolonialismus. Erster Weltkrieg als Raubkrieg mit schwersten traumatischen Folgen, Russische Revolution mit massiver äußerer und innereuropäischer Reaktion gegen alles Linke bis zum Sieg durch den Faschismus. Millionen Tote, Ermordung des Großteils der linken und humanistisch gesinnten Intelligenz im Faschismus und Stalinismus. Trauma des Holocaust, Kalter Krieg und Ausbau der sozialen und demokratischen Standards in Westeuropa und Nordamerika extreme Beschleunigung der Technologieentwicklung, Globalisierung des Kapitalismus, Ende der „sozialistisch-terroristischen“ Regime in Osteuropa.

 

Die utopischen Artikulationen der Klassenspaltung in der Kunst zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts

“Die Kunstausstellung ist eine Missgeburt des kunstverarmten Europas. Da die Kunst im wirklichen Leben der zivilisierten Völker erstarb, musste sie sich in jene grotesken Schauhäuser flüchten und sich dort prostituieren. Das Kunstwerk hat heute nicht mehr seinen festen, geheiligten Platz inmitten des Volkes, es ist vogelfrei geworden.“ (Gropius 1919)

Für die Avantgarde ist bürgerliche Kunst bloße Ideologie: sie verschönt die Wirklichkeit, um deren unschöne Seiten zu verdecken: „... dieses Milieu bemäntelt die Wahrheit“ (Leger). Damit aber darf sich „echte“ Kunst - auch und gerade wenn sie sich als Anti-Kunst versteht - nicht zufrieden geben:„Der Dadaist hält es für nötig, gegen die Kunst aufzutreten, weil er ihren Schwindel als moralisches Sicherheitsventil durchschaut hat. (...) Es muss dem Bürger die Möglichkeit genommen werden, „Kunst zu seiner Rechtfertigung zu erhalten“ (Huelsenbeck).

Die Avantgarde bringt also ein genuines Projekt der Aufklärung zu Ende: die Zerstörung der bürgerlichen (?) Ideologie. Das Rasen des Künstlers ist deshalb auch kein blindes Wüten, es ist heiliger Zorn - etwas, das er „... als eine Mission betrachten und wie ein Priesteramt ausüben muss.“ (B. Croce, 1913)

In der Stilisierung dieser Mission ins Titanenhafte zeigt sich der Avantgardekünstler als gelehriger Schüler des von ihm ansonsten so vehement abgelehnten 19. Jahrhunderts. Sein Ziel aber ist weiter gesteckt: Es ist nichts weniger als eine Gesellschaft ohne Widersprüche, die realisierte Utopie, die soziale Revolution ...: „Nichts ist uns teuerer als diese Produkte des menschlichen Genies, die, von der Vormundschaft der Götter und Tyrannen befreit, seine unendlichen Fähigkeiten und seine grenzenlose Freiheit bezeugen. Der Kult der Kunst wäre somit die Religion des heutigen Menschen, die die Mitglieder einer neuen Ecclesia von modernen Menschen vereinigt.

 

Die russischen Avantgarde

Die Programme der westeuropäischen Avantgarde sind Entdifferenzierungsprogramme, das heißt, sie zielen darauf ab, die dort bereits im 18. Jahrhundert erfolgreich durchgesetzte Autonomisierung und Spezialisierung der Kunst zu attackieren und aufzuheben; die auf den ersten Blick identischen Programme der russischen Avantgarde hingegen sind keine Ent-Differenzierungsprogramme, sondern die weiterlaufende Reflexion nicht ausdifferenzierter, ohnehin heteronomer Kunst in einer nicht funktionsdifferenzierten Gesellschaft. Mit anderen Worten: Die Vorstellungen der russischen Avantgarde zur sogenannten Verschmelzung zwischen Kunst und Leben, sind in den Reflexionstheorien der nicht ausdifferenzierten russischen Kunst bereits weitgehend enthalten, so dass sie von der Avantgarde quasi nur reaktiviert werden mussten.

 

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